Schw. M. Doria Schlickmann, Historikerin und Autorin
Interview: Heinrich Brehm, PressOffice Schönstatt
Durch die Veröffentlichung eines Artikels einer katholischen Wochenzeitung in Deutschland sind Vorgänge aus den 50er Jahren zur Sprache gekommen, die sowohl den Gründer Schönstatts als auch die Gemeinschaft der Schönstätter Marienschwestern in ein schlechtes Licht rücken. www.schoenstatt.de hat Schwester M. Doria Schlickmann, Autorin einiger Bücher über Pater Josef Kentenich sowie ausgezeichnete Kennerin der Schönstatt-Geschichte gebeten, mit einigen Antworten Licht in die Sachlage zu bringen.
Schwester Doria, besagter Artikel spricht davon, dass Pater Kentenich, der „Vater“ war, „der Gründer mit der absoluten Macht, der oft mit Gott gleichgesetzt wird, so sehr, dass in vielen Äußerungen und Gebeten nicht klar verstanden wird, ob diese an Gott den Vater oder an den Gründer selbst gerichtet sind.“ Stimmt das? Wie erklären Sie sich diese Vermischung von Vater Gott und Gründervater?
Gebete können letztlich immer nur an Gott gerichtet sein. Die Erfahrung von menschlichen Transparenten der Liebe Gottes können diese Gebete noch lebendiger und inniger werden lassen. Das Wort „Vater“ für den Gründer ist schon rein objektiv nicht unüblich. Viele Gemeinschaften nennen ihren Gründer auch Vater. Bei vielen Menschen hat sich ihr Gottesbild nach einer Begegnung mit Pater Kentenich verändert. Bei ihm war es auch irgendwie erstaunlich, dass Männer, Frauen, Jugendliche, auch Ehepaare – ohne äußere Anregung und unabhängig voneinander – auf einmal das Bedürfnis verspürten, ihn Vater zu nennen. Als Konkurrenz zu Gott wurde und wird das eigentlich nie verstanden.
Wie würden Sie die Beziehung der Marienschwestern zu Pater Kentenich beschreiben? Wie lebt er in ihrer Gemeinschaft?
Er ist der Gründer, dem die Gemeinschaft ihr originelles Gepräge und – wie ein Papst es einmal ausdrückte – „ihre starke Spiritualität“ verdankt. Er hat für diese Gemeinschaft ungewöhnliche Opfer gebracht, nicht nur in der Bereitschaft, in Dachau sein Leben für sie zu lassen, sondern auch in der Preisgabe seiner Ehre während und im Umkreis des Exils. Der Visitator und das Heilige Offizium wollten Gründer und Gründung komplett voneinander trennen. Vielleicht hat dieser langjährige Versuch die Verbundenheit zum Gründer sogar noch intensiviert. Für uns ist selbstverständlich, dass er auch in der Ewigkeit unser geistlicher Vater geblieben ist. Er lebt in unserer Gemeinschaft durch sein reiches Geisteserbe und wir erfahren lebendig seine Fürbittmacht. Für mich ist er ein großes Vorbild für meine Lebensgestaltung: in seiner Hingabe an Gott und seiner großen Menschenliebe. Beeindruckend ist für mich auch immer wieder seine Pädagogik und psychologische Einfühlung. Mich fasziniert, wie ein Mensch verschiedenste Arten und Typen innerlich so in sich aufnehmen, bejahen und fördern kann.
Pater Kentenich war überzeugt, dass Menschen, um ihre Persönlichkeit zu entwickeln, starke Bindungen brauchen. Was bewirkt Bindung an einen Menschen? Macht sie ihn stark oder hält sie ihn klein? Und wie passen dazu die Notizen des Visitators Sebastian Tromp SJ, der festgehalten hat, „dass es unter den männlichen Führungskräften und den Marienschwestern nur wenige sichere Persönlichkeiten gibt, die über ein unabhängiges Denken und innere Freiheit verfügen“?
Grundsätzlich macht eine gesunde menschliche Bindung stark, wenn sie nicht in eine blinde Abhängigkeit ausartet. Jedes Kind, das sich durch seine Eltern originell geliebt weiß, entfaltet seine Persönlichkeit, wird stark, selbstbewusst und gewinnt eine positive Lebenseinstellung. Das setzt allerdings voraus, dass Eltern, Erzieher, solche, die in der Bindung die Hauptverantwortung tragen, selbstlos sind, gerade weil sie in gewisser Weise eine Autorität darstellen. Eine Frau, so scheint mir, ist dafür besonders sensibel, ob jemand selbstlos ist oder etwas für sich will, eine Frauengemeinschaft erst recht. Eine Mitschwester, die Jahrzehnte mit dem Gründer zusammengearbeitet hat, sagte mir einmal: „Wenn wir das Geringste nach dieser Richtung (Selbstsucht) bei ihm (Pater Kentenich) gespürt hätten, hätten wir uns sofort zurückgezogen.“ Was ich in jahrzehntelanger Beobachtung und Forschung feststellen konnte, war, dass tatsächlich aus der Bindung an Pater Kentenich viele starke und eben gerade innerlich freie Persönlichkeiten in allen Schönstattgemeinschaften herangereift sind, bis heute wie mir scheint. Für eine Reihe dieser heiligmäßigen Vorbilder in der Schönstattgeschichte laufen in verschiedenen Ländern ja bereits die Seligsprechungsprozesse.
Pater Tromp hat vielleicht nicht wahrgenommen, dass er durch seine autoritäre Vorgehensweise manche Schwester sehr erschreckt hat. Die Schwestern waren an einen solchen Stil von Pater Kentenich her nicht gewohnt. Der Visitator war zudem durch einige wenige Marienschwestern, darunter auch unsere erste Generaloberin, schon im Vorhinein gegen Pater Kentenich nachteilig beeinflusst worden. Was Pater Tromp nicht durchschaut hat oder durchschauen konnte, war, dass gerade diese Generaloberin schon früh im Gründer eine Konkurrenz sah. Sie sammelte akribisch nachteilige Aussagen gegen ihn und ließ sie dem Visitator zukommen. Das alles finden Sie aber ausführlicher in meinem Buch zur Biographie.
Pater Tromps Urteil, alle übrigen Schwestern und Patres, die nicht seiner Meinung waren, seien schwach, unsicher und nicht eigenständig im Denken, ist m. E. eine ziemliche Fehleinschätzung, die ich mir dadurch erkläre, dass er mit Frauenseelsorge keinerlei Erfahrung hatte. Er war sicher ein ausgezeichneter Professor der Dogmatik, aber hier lag ein ganz anderes Feld vor ihm. Die Geschichte, Ausbreitung und Entfaltung des Schönstattwerkes in der ganzen Welt, das von noch jungen Marienschwestern eigenständig in der Fremde getragen wurde, beweist das Gegenteil.
Pater Kentenich wurde von der Kirche ins Exil geschickt. Welche Gründe gab das Heilige Offizium denn gegenüber Pater Kentenich und gegenüber der Schönstattfamilie dafür bekannt?
Es war nicht Praxis des HO, vor dem II. Vatikanischen Konzil wohlgemerkt, Gründe anzugeben. In den verschiedensten Dekreten finden sich lediglich die Bestimmungen. Desgleichen wussten auch die Leitungen in Schönstatt keine Gründe. Pater General Turowski hatte während seiner Amtszeit als General der Pallottiner mehrfach angefragt nach den Gründen für die Amtsenthebungen und die Verbannung von Pater Kentenich, aber meines Wissens darauf keine Antwort erhalten.
Nach und nach sickerten in den folgenden Jahren Gerüchte durch, wurden immer mehr Verleumdungen hörbar, Phantasielügen, die dem Gründer eine sittliche Unlauterkeit unterstellten. Nach etwa zehn Jahren Exil wusste Pater Kentenich um all diese Anschuldigungen. Als er deswegen wiederholt um einen juristischen Prozess gegen ihn bat, um sich gegen die Vorwürfe und immer neue Verdächtigungen verteidigen zu können, wurde ihm das als Ungehorsam ausgelegt. Deswegen schrieb er Anfang der 60er Jahre im Hinblick auf seine Person eine ausführliche Stellungnahme, die ihm aber ungelesen zurückgeschickt wurde. Er solle schweigen und sein Kreuz geduldig tragen. Eine Möglichkeit, sich zu verteidigen, wurde ihm nicht gewährt.
In einem anderen Artikel wird von der Verfasserin sehr abfällig die religiöse Praxis des Kindesexamens vorgestellt, die in Ihrer Gemeinschaft eine Rolle spielt. Wie ist dieser Ritus zu verstehen und welchen Sinn hat er? Wird er auch heute noch praktiziert?
Es ging Pater Kentenich immer um einen vitalen, persönlichen Gottesbezug und um den zentralen Kern unserer Spiritualität: das Kindsein vor Gott. Die Fragen des sogenannten Kindesexamens beziehen sich auf unser Verhältnis zu Gott als Gotteskind. Deswegen heißt es auch Kind und nicht „Tochter“. Wem gehören wir? Gott. Was darf Gott mit uns machen? Alles! Was sind wir vor ihm? Eigentlich ein kleines Nichts und deswegen sein Alles. Das ist ein Motiv, das sich eigentlich durch die gesamte Geschichte der christlichen Spiritualität zieht. Gottes Liebe zu uns ist unbegreiflich groß und persönlich, nicht einfach pauschal. Das Wort Vater macht die Hingabe an Gott persönlich, so wie Jesus mit dem Vater im Johannesevangelium spricht: Gerechter Vater, … Geliebter Vater … und viele andere Stellen. Es ist ein urpersönliches Sprechen mit dem Vater.Diese Hingabe konnte in Form eines Frage-Antwort-Dialogs mit dem Gründer einen konkreten Ausdruck finden. Das war einfach vom Leben her so gewachsen. Keineswegs ist es aber ein allgemein gültiger Brauch oder regelmäßig wiederkehrender Ritus, den jede Schwester praktizierte oder gar praktizieren musste. Das war und ist eine freie Entscheidung der jeweiligen Schwester.Wenn eine Schwester das möchte, kann sie das gegenüber den letzten Vorgesetzten der Gemeinschaft zum Ausdruck bringen. Aber immer ist dabei Gott der letzte Adressat. Sonst wäre das Ganze ja ein unwürdiges Spiel. So wie das in der Veröffentlichung dargestellt wurde, ist es völlig verzerrt.
Was hat es mit der Frage auf sich: Wem gehört die Brust?
Auch das ist in Medien sehr verzerrt und unrichtig wiedergegeben. Jeder, der das liest, muss denken: Das ist ja absurd!
Diese Frage bezog sich auf einen einzigen Fall. Die Schwester hatte eine ausgeprägte Angststörung in Bezug auf ihre körperliche Erscheinung und versuchte deswegen krampfhaft, ihre fraulichen Formen soweit als möglich zu verbergen. Man muss dabei bedenken, dass die Erziehung religiöser Mädchen zu dieser Zeit häufig zu sexueller Verklemmtheit und Prüderie führte. Pater Kentenich hat ihre Zwangsvorstellung ihr gegenüber klar benannt und wollte sie von diesem Zwang befreien. Er machte ihr damit deutlich, dass sie ganz so wie sie ist von Gott angenommen ist.
Im Zeitungsartikel wird Ihre Gemeinschaft aus der Sicht des Visitators beschrieben. Wie haben denn die Schwestern den Visitator erlebt? Was für eine Person war er? Wie wirkte er auf die Schwestern ein? Was erzählten die betroffenen Schwestern über ihn und sein Auftreten? Wie viele Schwestern hatte er denn tatsächlich persönlich erlebt und gesprochen?
Wie die Archivdokumente unserer Chronik belegen, wurde er mehr als ungehalten, sobald eine Schwester eine andere Meinung vertrat als er hören wollte. Er reagierte jähzornig und unbeherrscht, strafversetzte willkürlich Schwestern und Priester, die ihm widersprachen, entschied über kleinste Belange der Schwestern und wollte erzwingen, dass sie Gelübde ablegen. Er verfügte alles in einer Art, wie die Gemeinschaft es überhaupt nicht gewohnt war. Die meisten Schwestern und Priester ließen sich nicht durch ihn einschüchtern und vertraten ihm gegenüber eigenständig und mutig ihre Meinung, selbst wenn sie dadurch viele Nachteile hatten.
Was kann die Schönstatt-Bewegung jetzt tun? Wie deuten Sie diesen aktuellen Vorgang? Was soll Schönstatt daraus lernen?
Zunächst glaube ich, dass die jetzt veröffentlichten Missdeutungen und fälschlichen Anklagen gegenüber Pater Kentenich uns geradezu zwingen, das Unrecht, das Pater Kentenich über Jahrzehnte widerfahren ist, ans Licht zu heben. Ja, was soll Schönstatt daraus lernen? Vielleicht, dass es nicht immer ratsam ist, vornehm zu schweigen.
mehr Information: Dorothea M. Schlickmann, Josef Kentenich, ein Leben am Rande des Vulkans, Herder 2019, S. 224 – 318.