11.02.2024

Würde erleben
– Teil 1 –

Sr. M. Florence Harder
Quarten, Schweiz

Interview mit

Schwester Rita-Maria Alessi    

– Teil 1 –

 

Schwester Rita-Maria Alessi gehört seit 54 Jahren zur Gemeinschaft der Schönstätter Marienschwestern. Seit 45 Jahren lebt und wirkt sie im Wohnheim St. Josef in Weesen¹, einem Heim für erwachsene Frauen mit körperlicher oder geistiger Behinderung, das seit 1946 den Schönstätter Marienschwestern gehört.
Auch heute ist die bereits 79-jährige noch ehrenamtlich im Wohnheim tätig; sie bietet wöchentlich eine Turnstunde an.

 

Die Fragen stellte Schwester M. Florence Harder:

Schwester Rita-Maria, du hast über 30 Jahre als Abteilungsleiterin und Behindertenbetreuerin im Wohnheim St. Josef gewirkt. Was bedeutet dir das?

Sehr viel! Mir hat diese Aufgabe von Anfang an gut gefallen. Oft fühlte ich mich wie eine Mutter für die Behinderten, denn viele hatten keine Angehörigen mehr. Aber hier haben sie alles: ein Zuhause, jemanden zum Reden, die nötige Pflege, ein abwechslungsreiches Programm.

Gibt es auch heute noch Bewohnerinnen, für die das Wohnheim das einzige Daheim ist?

Ja, es gibt Bewohnerinnen, die keine Angehörigen mehr haben. Und sie sind hier wirklich zu Hause; hier ist ihre Heimat.

Tatsächlich ist es so, dass hier eine besondere Atmosphäre herrscht. „Ein Haus der Freundlichkeit” – so nennt Schwester M. Theresiane dieses Haus.

Das stimmt. Unser Leitbild heisst: „Haus mit Herz.” Diese echt menschliche Atmosphäre, dieses schöne Miteinander, das ist es, was Heimat schafft. Auch die Auszubildenden lernen, wie sie Atmosphäre schaffen können – und natürlich tragen auch wir Schwestern, die hier wohnen, dazu bei, auch wenn wir nicht mehr in die Pflege oder in andere alltägliche Abläufe involviert sind.

Was schätzt du an den Behinderten besonders?

Sie strahlen so viel Zufriedenheit und Dankbarkeit aus. Es klingt paradox – aber gerade weil sie auf Hilfe angewiesen sind und diese bekommen, sind sie so dankbar. Und das hat eine Rückwirkung. Im täglichen Umgang mit den Bewohnerinnen bekommt man so viel zurück geschenkt – auch wenn es „nur” ein Lächeln ist. Dienen schenkt Freude.

Was ist für dich Würde?

Jeden Menschen als Abbild Gottes zu sehen, einmalig und unendlich wertvoll. Wer diesen Blick hat, bekommt den richtigen Umgang mit dem Leben. Ich habe die Bewohnerinnen immer als vollwertige Personen angenommen. Mit einigen bin ich all die Jahre beim „Sie” geblieben, weil sie es so gewünscht haben. Dieser Ausdruck von Ehrfurcht war mir wichtig. Dazu hatte ich immer den Grundsatz, mit den Behinderten so umzugehen, wie ich selber in der gleichen Situation auch behandelt werden möchte.

Für mich steht fest: Jedes Leben ist unendlich wertvoll! Ich bin überzeugt, dass sich viele Menschen nach der Botschaft sehnen, dass ihr Dasein ein Geschenk ist und dass sie wertvoll und wichtig sind. Gott hat mit jedem Leben eine Botschaft verbunden – auch dann, wenn jemand nicht reden kann. Wenn mich eine Frau mit geistiger Behinderung anstrahlt, dann ist das für mich eine viel stärkere Botschaft, als irgend ein schönes Wort.

Gibt es ein Motto oder einen Grundsatz, an dem du dein Wirken orientiert hast?

Als ich noch junge Schwester war und meine Mutter erfuhr, dass ich Abteilungsleiterin werde, hat sie mir den Rat gegeben:

„Du darfst nie eine Bewohnerin bevorzugen und sollst alle gleich behandeln.”

Das ist mir oft eingefallen.

Ich hatte immer die am liebsten, die am ärmsten dran waren, diejenigen, die am meisten auf meine Hilfe angewiesen waren. Die waren es auch, die meine Liebe am meisten brauchten, gerade weil sie so hilflos waren.

[1] Wohnheim St. Josef Weesen

– Teil 2 hier –

Fotos: Sr. M. Florence Harder, Quarten, Schweiz